14 Goldene Propheten­büsten

>Büsten der Propheten Philon II, Jesaja und Jeremias II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, teilw. Bergkristall, 19–20,5 x 13,23–15,8 cm, Inv. Nr. E.11, E.20 und E.21
(aktuell nicht ausgestellt)
Position im Dom
Retabel des Hochaltars mit Teilen des Domschatzes im Jubiläumsjahr 2014, Gerhard Gröninger u. a., 1619–1622, Eichenholz, Marmor, Bronze, 570 x 600 x 88 cm © Bistum Münster

Die Prophetenbüsten ergänzten einst eine Figurengruppe bestehend aus den zwölf Apostelfiguren, dem Dompatron Paulus, Johannes dem Täufer und Maria, des nur zu höchsten Feiertagen geschmückten und sichtbaren steinernen innersten Hochaltarretabels. Davon sind heute die zwölf Apostelfiguren, der Dompatron Paulus und Maria alltäglich sichtbar im neuen Hauptaltar des Domes. Johannes der Täufer und die Prophetenbüsten sind Teil des Domschatzes, der aktuell nicht ausgestellt ist.

In dieser feierlichen Vollausstattung wurde den betrachtenden Gläubigen der Jahrhunderte ein prachtvolles Figurenprogramm präsentiert. Das versucht, eine enge Verbindung von der Prophetie des Alten Testaments  über Christus als den Verheißenen bis zu den ersten Verkündigern und Zeugen der christlichen Botschaft herzustellen. Als Propheten werden Personen bezeichnet, die durch einen Gott berufen sind, eine Gottesbotschaften zu verkünden. Den Inhalt der Botschaft wird Prophetie genannt.

Zelebrationsaltar (1956 geweiht) mit den teilvergoldeten Silberstatuetten der Apostel und Maria aus der 2. H. des 15. Jh. © Stephan Kube, Greven

Bemerkenswert ist bei den 14 Prophetenbüsten besonders, dass in ihrer Gruppierung Philon von Alexandrien unter die Propheten eingeordnet wird.

Jedoch war dieser kein biblischer Prophet, sondern ein spätantiker jüdischer Gelehrter. Warum darüber hinaus er und Jeremia doppelt auftauchen, ist ebenfalls nicht zu klären. 

Die Propheten dienten im Programm des Hochaltares dazu, die Apostel in eine fortdauernde Traditionslinie zum Alten Testament zu stellen und die christliche Botschaft historisch rückgebunden zu legitimieren. Die Prophetie im Alten Testament wird also in erster Linie nicht als etwas für sich selbst Stehendes und Sprechendes gesehen, sondern in den Dienst des Christentums gestellt. Dies geschieht besonders dadurch, dass die Prophetien des Alten Testaments auf Jesus Christus bezogen und in ihm als erfüllt und abgeschlossen angesehen werden. 

Büsten der Propheten Jesaja, Jeremias II und Philon II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, teilw. Bergkristall, 19–20,5 x 13,23–15,8 cm, Inv. Nr. E.11, E.20 und E.21 © Stephan Kube, Greven

Alle Prophetenbüsten sind mit Spruchbändern versehen, deren Zuordnung jedoch nicht in Gänze zu klären ist. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass Ergänzungen oder Wechsel stattgefunden haben. 

Trotzdem soll an drei exemplarisch beschriebenen Propheten die mitunter problematische Lesart des Judentums und seiner Tradition durch das Christentum deutlicher gemacht werden: Philon, Jesaja und Jeremia.

Philon

Einen Hinweis auf diese Lesart können uns auch die beiden Philonbüsten geben. Der Gelehrte beschäftigte sich vorrangig mit der Auslegung der Heiligen Schrift, der sogenannten Exegese. Er betrieb sie nicht, wie es Theologinnen und Theologen heute tun, nach der historisch-kritischen Methode, sondern auf eine „geistliche“ Art und Weise, indem er in den Schriften des Alten Testamentes einen tieferen Sinn abseits ihrer Wortbedeutung suchte. Dabei verband er seinen eigenen spätantiken jüdischen Hintergrund mit Momenten griechischer Philosophie und trug so ganz maßgeblich zu einem erweiterten, eher weisheitlichen Verständnis der Heiligen Schrift bei.

Philon II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, Bergkristall, 20,4 x 13,3 cm, Inv. Nr. E.21. © Stephan Kube, Greven

In diesem Modus ist der jüdische Philon für spätere Kirchenväter ein wichtiger Gelehrter und Ausgangspunkt eines neuen Umgangs mit der Bibel. Mit seiner Methode gab Philon späteren Lehrern eine Grundlage dafür, das Alte Testament stark vom Christentum und auf dieses hin zu deuten und die Schriften des Alten Testaments verstärkter für dieses in einen geistlichen Dienst zu nehmen. Zeitgeschichtlich und in sich war der historische Philon aber allem voran ein wichtiger Vermittler zwischen dem Judentum und der hellenischen Welt.

Philon als jüdischer Gelehrter wird hier stark für die christliche Botschaft in Dienst genommen und damit aus seiner eigenen Tradition herausgelöst.

Philon II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, Bergkristall, 20,4 x 13,3 cm, Inv. Nr. E.21, Detail © Stephan Kube, Greven

Beide Darstellungen des Philon aus dem Programm der 14 Büsten tragen ein identisches Spruchband, das das alttestamentliche Buch der Weisheit zitiert. Dort steht auf Latein „Philo Morte turpissima condemnemus“, übersetzt „Philon, zum schimpflichen Tod wollen wir ihn verurteilen“. Dieses Bibelzitat muss man in der Konstellation der Propheten- und Apostelbüsten genauer betrachten, da es keinen aus heutigen Schriftbeständen rekonstruierbaren Bezug zu Philon bietet.

In der hier geschilderten Lesart Philons als Prophet und Gelehrter drängt sich der Verdacht auf, dass er hier als Stellvertreter des Volkes Israel beziehungsweise seiner jüdischen Glaubensgeschwister und, gemäß des Zitates aus dem Buch der Weisheit, Zeuge für deren Verrat an Christus als dem eigentlichen Messias in Beschlag genommen und instrumentalisiert wird.

Mit dieser Komposition wird die im Mittelalter gängige Vorstellung befeuert, dass die Jüdinnen und Juden es waren, die an Jesu Verurteilung und Tod schuld seien. Dabei ist diese Vorstellung hinfällig, da Pontius Pilatus Jesus nach dem römischen Recht zum Tod am Kreuz verurteilte. Es muss angenommen werden, dass es in der Anordnung weniger um Philon und sein modal wichtiges Werk für das Christentum geht, sondern mehr um eine antisemitische Instrumentalisierung einer Person geht.

Philon wird hier zum Stellvertreter für eine gesamte Religionsgemeinschaft gemacht und steht als ein Wissender für eine große Gruppe von Menschen, die in Jesus ihren Messias verkannt haben – so die problematische christliche Lesart zur Entstehungszeit der Büsten.

Jesaja

Jesaja ist einer der wichtigsten Propheten des Alten Testaments. Er lebte im 8. Jahrhundert vor Christus und trat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts auf. Da seine Prophetien erst nach seinem Tod verschriftlicht wurden, ist nicht genau zu klären, welche Aussprüche wörtlich von ihm selbst stammen. Diesen Anspruch hat das Buch Jesaja aber, ebenso wie die anderen biblischen Bücher der Prophetie, nicht. Vielmehr geht es darum, die Prophetien in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Im 7. und 8. vorchristlichen Jahrhundert waren die Königreiche Israel und Juda von den Assyrern existenziell bedroht.

Jesaja, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, 19 x 15,8 cm, Inv. Nr. E.11. © Stephan Kube, Greven

Das Buch Jesaja beschäftigt sich dementsprechend viel mit der Frage, wie mit dieser Bedrohung umzugehen sei. Gleichzeitig war Jesaja ein großer Sozialkritiker, der sich in seiner prophetischen Rede den sozialen Spannungen in Juda annahm. Ein Motiv zieht sich dabei durch das ganze Buch hindurch: Das Bild von JHWH als Gott, der über das Volk Israel Gericht hält, da es sich beständig von ihm und seinen Propheten abgewandt hat. JHWH ist dabei der alles lenkende Gott über die Völker. Dieser Logik entsprechend ist er es auch, der das Volk der Assyrer zur Bedrohung Israels herbeigerufen hat. Vertraut das Volk Israel auf JHWH allein und kehrt im Glauben zu ihm zurück, ist seine Rettung sicher.

Aber Jesaja ist nicht nur ein Unheilsprophet, der maßregelnd zum Volk Israel spricht. Er stellt ihm immer wieder in Aussicht, dass JHWH in das Geschehen zu Gunsten seines erwählten Volkes eingreifen wird und spricht immer wieder von einer strahlenden Zukunft, in der ein von ihm erwarteter messianischer Herrscher regieren wird. Unter diesem Friedensfürst soll göttliche Gerechtigkeit herrschen.

Besonders diese Heilsprophetien wurden auch durch das Christentum aufgegriffen und auf Jesus Christus bezogen, in dem sie ihre Erfüllung fänden. Im Neuen Testament wird das Jesaja-Buch nach dem Buch der Psalmen am Häufigsten zitiert. Eine besondere Rolle nehmen die Prophetien Jesajas bis heute unter anderem in der Advents- und Weihnachtszeit ein, so werden zahlreiche Stellen im Zugehen auf das Weihnachts- und Osterfest im Gottesdienst gelesen oder auch gesungen.

Jesaja, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, 19 x 15,8 cm, Inv. Nr. E.11. © Stephan Kube, Greven

Auch die Jesaja-Büste trägt ein Spruchband mit Bibelzitaten. Hier: „Ecce virgo concipiet et pariet filium“ – „Siehe, das junge Mädchen wird empfangen und einen Sohn gebären“ aus Jesaja 7,14. In der christlichen Lesart wird dieser Teil einer Heilsprophetie Jesajas auf Maria und Jesus bezogen und im Neuen Testament auch fast wortgleich aufgegriffen.

Durch die Übernahme alttestamentlicher Prophetien wie dieser, sollte der christlichen Botschaft eine größere Rechtmäßigkeit zukommen. Jesus Christus wurde zum Messias, den schon die Prophetinnen und Propheten des Alten Testaments ankündigten.

Jeremia

Jeremia ist, wie auch Jesaja, einer der großen Propheten des Alten Testamentes. Zwar lassen sich aus dem historisch langsam gewachsenen Jeremia-Buch nur wenige Schlüsse auf seine Biografie ziehen, seine theologischen Kernaussagen werden jedoch umso deutlicher. Ein großes Thema ist die Verehrung fremder Götter durch das Volk Israels: Indem sie fremde Götter verehren, wenden sie sich von ihrem einen Gott, JHWH, ab. Immer dann, wenn das passiert, greift JHWH ein und bringt Unheil über das Volk Israel.

Jeremias II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, 20,5 x 14,2 cm, Inv. Nr. E.20 © Stephan Kube, Greven

Diese prophetischen Aussagen stehen im Kontext der jüdischen spirituellen Reflexion der Zeit des babylonischen Exils des Volkes Israel. Der christliche Eklektizismus – neue Zusammensetzung verschieder Elemente – liest aus Jeremia jedoch etwas ganz anderes heraus: Die Rede vom neuen Bund, die lediglich an einer kleinen Stelle im 31. Kapitel des Buches Jeremia vorkommt. Diesen dem Volk Israel verheißenen neuen Bund bezieht das Christentum auf sich selbst und sieht ihn in Jesus Christus und seiner Passion, die besonders im liturgischen Kontext mit den Klageliedern Jeremias verbunden wird, als begründet und erfüllt an. 

Die beiden Jeremiabüsten aus dem Figurenprogramm des Altarretabels tragen Schriftrollen mit einem Zitat aus den sogenannten Klageliedern des Jeremia. Dieses biblische Buch setzt sich ausgehend vom babylonischen Exil und der Zerstörung Jerusalems mit der Frage nach dem Leid in der Welt auseinander. Die Verbindung der Klagelieder mit dem Werk des Propheten Jeremia stammt vor allem aus der christlichen Tradition, die annahm, dass es die Klagelieder seien, die Jeremia angestimmt hätte.

Noch heute tauchen die Klagelieder des Jeremia in der Liturgie der Kartage, besonders des Karfreitags auf, ebenfalls haben sie einen festen und wichtigen Platz in den nächtlichen Stundengebeten in diesen Tagen.

Jeremias II, Münster (?), um 1390/1400, Silber, teilw. vergoldet, 20,5 x 14,2 cm, Inv. Nr. E.20 © Stephan Kube, Greven
Darüber hinaus auch in der sogenannten „Düsteren Mette“, einer noch heute bestehenden überlieferten Eigenliturgie einiger Domkapitel, auch des Kapitels von Münster. Durch diese starke liturgische Rezeption erfuhren die Jeremia zugeschriebenen Klagelieder eine eindeutig auf Jesus Christus und seinen Tod gemünzte Deutung. Auf den Schriftrollen der beiden Büsten findet sich der 12. Vers des ersten Klageliedes: „Attendite et videte si est dolor [sicut dolor meus]“ – „Schaut her und sehet, ob ein Schmerz ist [, der meinen Schmerzen gleicht]“ (Klg 1,12). Die katholische Tradition bezieht diesen Klagespruch auch auf Maria, die Mutter Jesu, die der Abnahme ihres Sohnes Jesus vom Kreuz beiwohnt.
Albracht

Mara Albracht

24 Jahre

Ich habe mit Stationen in München und Frankfurt am Main Theologie studiert und beende mein Studium nun in Münster. Besonders interessant finde ich, wie sich die christliche Tradition das Alte Testament aneignet und leider oft ohne Rücksicht auf die jüdischen Traditionen und Lesarten rezipiert.

Literaturhinweise

Kempkens, Holger: 14 Prophetenbüsten vom Hochaltarretabel. In: Grote, Udo (Hg.): Der Schatz von Münster. Wertvolle Reliquiare und Kunstwerke aus der Domkammer = The treasure of Münster. Münster 2019, 112–199 (Nr. 15).

Schart, Aaron: Art. Prophetie.n: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet www.wibilex.de, 2014. Online unter: www.bibelwissenschaft.de.